Die Grenze im Kopf

Kleine Anmerkung: Weil ich in meinen Blogposts zu einem ehrlichen und persönlichen Nachdenken einladen möchte, verwende ich ein freundlich und respektvoll gemeintes „Du“.

Für Zirkuselefanten gibt es die grausame Praxis, sie in jungen Jahren anzuketten, um sie auf einen bestimmten Radius zu beschränken, und sie schmerzhaft zu bestrafen, wenn sie versuchen, diesen begrenzten Raum zu verlassen. Irgendwann brauchen diese Elefanten dann gar keine Fußfessel mehr: In Antizipation von Schmerz versuchen sie erst gar nicht mehr, davonzulaufen, auch wenn sie es eigentlich könnten. Sie haben die von außen festgelegte Grenze derart verinnerlicht, dass es die äußere Grenze gar nicht mehr braucht – die Elefanten beschränken sich selbst.

Diese Geschichte erinnert mich ehrlich gesagt an etwas, das auch wir Menschen manchmal mit uns machen – auch wenn ich hoffe, dass nur wenige von uns in ihrer Vergangenheit physische Gewalt erfahren haben und der Vergleich sicherlich stellenweise hinkt. Dennoch: Meine Beobachtung ist, dass viele von uns in der Gegenwart frei und sicher sind – weil wir aber so manche Beschränkung verinnerlicht haben, können wir diese Freiheit überhaupt nicht wahrnehmen und machen deshalb immer wieder vor unsichtbaren Grenzen Halt.

Vielleicht kennst du dieses Gefühl ja kleinen Situationen: Du hast z.B. lange für eine Prüfung gelernt, diese hinter dich gebracht und könntest dich nun eigentlich entspannen. Das fällt dir in den ersten Wochen aber gar nicht so leicht, weil du verinnerlicht hast: „Einfach nur abhängen = schlechtes Gewissen“. Sehr schwerwiegend zeigt sich dieser Mechanismus bei Menschen die ein Trauma erlitten haben. Sie entwickeln oft große Ängste, deren eigentlicher Zweck darin besteht, sie vor einer erneuten Gefahr zu beschützen. Diese Ängste bleiben auch dann bestehen, wenn die aktuelle Lebenssituation eigentlich Sicherheit verspricht. 

Vieles von dem, was uns im Alltag oft unbewusst beschränkt, bewegt sich zwischen diesen beiden Polen. Unsere frühen Erfahrungen müssen nicht unbedingt traumatisch gewesen sein und können uns trotzdem darauf konditionieren, den Gestaltungsspielraum, den wir uns in bestimmten Lebensbereichen zugestehen, stark zu beschränken. Wenn du magst kannst du ja einmal überlegen, ob es bei dir auch einen Bereich gibt, in dem das zutrifft?

Meiner Erfahrung nach sind ein typisches Feld z.B. unsere Beziehungen: Wenn wir früher einmal die Erfahrung gemacht haben, dass auf Entspannung und Vertrauen Schmerz folgt, dann können wir uns in Beziehungen mit liebevollen Partner*innen oft schlecht fallen lassen, werden nervös und misstrauisch. Manche von uns wählen dann tatsächlich lieber Partner*innen, die uns offensichtlich nicht so toll behandeln – hier scheint die Gefahr besser einschätzbar und wir fühlen uns paradoxerweise sogar sicherer. Oder wir erleben diese innere Grenze im Bereich finanzielle Sicherheit: Möglicherweise kommen wir aus einer Familie, in der das Geld häufig knapp war – und haben heute immer noch das Gefühl, uns nichts gönnen zu dürfen und immer ackern zu müssen, auch wenn unsere aktuelle Situation eigentlich ganz anders ist als die damalige.

Wenn du bei dir selbst auch so ein Thema entdeckst, dann wäre mein Tipp: Trau dich und überschreitet die innere Grenze trotzdem. Achtung: Das wird nicht angenehm – du wirst wahrscheinlich Angst, Scham, Schuld oder Abwehr spüren. Wenn du durch diese Gefühle hindurch gehst und sie aushältst, kann es sein, dass du auf der anderen Seite jedoch mit der Zeit spüren wirst: Die Fesseln – die gab’s seit langer Zeit nur noch in deinem Kopf. 

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