Wieso es sich lohnt, all unsere Gefühle zu leben

Kleine Anmerkung: Weil ich in meinen Blogposts zu einem ehrlichen und persönlichen Nachdenken einladen möchte, verwende ich ein freundlich und respektvoll gemeintes „Du“.

Wie viel von uns zeigen wir denen, die uns nahestehen? Was von unserem Erleben gestehen wir uns selbst ein und zu – und was nicht?

Mir ist in den vergangenen Wochen immer wieder das Thema Authentizität begegnet. Authentisch sein, das ist irgendwie echt und auf jeden Fall irgendwie gut – das ist so der Eindruck, der erstmal entsteht, wenn man sich mit diesem Begriff beschäftigt, finde ich. Gleichzeitig ist mein Empfinden: So sehr wir in einer Gesellschaft leben, die Authentizität mehr und mehr zu befürworten zu scheint, so sehr scheint doch der allgemeine Imperativ zu gelten, vor allem das an uns zu spüren und mit anderen zu teilen, was irgendwie nett, irgendwie rund, irgendwie akzeptabel erscheint. Natürlich zeigen wir uns – aber eben nicht alles von uns. Natürlich fühlen wir unsere Gefühle – aber bitte nicht alle unsere Gefühle. Wir spüren gern unsere Freude, unseren Ehrgeiz, unseren Stolz, unsere Energie. Unsere Wut, Traurigkeit, Enttäuschung, Missgunst, Verzweiflung, unseren Neid – die teilen wir eher ungern mit anderen und oft noch nicht einmal mit uns selbst. Meist glauben wir, anderen damit einen Gefallen zu tun – diese „negativen“ Gefühle fühlen sich nunmal für niemanden besonders toll an, oder? Und dass wir damit niemandem zur Last fallen wollen, das ist gleich der nächste Imperativ, den viele von uns verinnerlicht haben. Auch ich finde es hilfreich, wenn wir lernen, uns gut um unsere eigenen Gefühle zu kümmern. Nur: Heruntergeschluckte Gefühle sind deshalb nicht weg und Unterdrückung ist keine Bewältigungsstrategie. Nur wer sich selbst erlaubt, all seine Gefühle – auch die Missgunst, den Neid, die Erschöpfung, die Verletztheit – zu spüren, kann lernen, diese Gefühle auf eine Art und Weise auszudrücken und mit anderen zu teilen, die heilsam ist und Verantwortung für uns selbst und den anderen übernimmt.

Was mich in der letzten Zeit aber besonders beschäftigt hat ist, was es mit unseren Beziehungen macht, wenn wir einen bestimmten Teil unseres Erlebens einfach ausklammern. Was macht es mit einem Scheidungskind, wenn es nicht spürt, dass es vermisst wird – weil die Eltern glauben, dass das mit einer starken Elternrolle nicht vereinbar ist? Was macht es mit einem Erwachsenen, dessen Partner*in alle Gefühle der Bedürftigkeit und Verletzlichkeit ausklammert? Was macht es mit einem Kind, dessen Eltern nie auch mal wütend werden, um für es einzustehen? Was macht es mit unserem Selbstverhältnis (und unseren Freundschaften), wenn wir andere nie auch mal neidisch, zweifelnd, wankend erleben?

Wenn die Menschen, die uns am nächsten stehen, wichtige Teile ihres Erlebens zurückhalten, kann es passieren, dass uns etwas Wesentliches entgeht: Dass wir es wert sind, schmerzlich vermisst zu werden. Dass jemand aus der Haut fahren kann, um uns (oder die eigenen Grenzen) zu verteidigen. Dass wir gebraucht werden. Dass wir okay sind, so wie wir sind und mit unseren Gefühlen nicht allein. Authentizität in Hinblick auf unsere Gefühle – verantwortungsvoll gelebt – ermöglicht erst wirkliche Nähe. Mir geht es dabei nicht darum, dass wir unsere Gefühle Amok laufen lassen. Aber: Wenn wir uns trauen, zumindest uns selbst und den wichtigsten Menschen in unserem Leben mit all den verschiedenen Facetten unseres Erlebens zu begegnen, gewinnen wir das große Geschenk der Verbundenheit. Und so können gerade die „negativen“ Gefühle heilsam sein. Paradoxerweise ist es manchmal genau das, was unsere Beziehungen am dringendsten brauchen: Unsere geteilte Traurigkeit, Wut, Verletzlichkeit, Angst. Unsere Ganzheit, unsere Menschlichkeit.

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